"Wollen wir reingehen?", fragte Julius leise.
Flavius protestierte erschrocken. "Wir sollten lieber die Polizei holen", stammelte er.
Die anderen blickten fragend auf Mucius. Mucius ging auf Zehenspitzen zum Vorhang hin, blieb davor stehen und lauschte wieder. Das Geräusch war verstummt.
"Vielleicht war es nur der Wind", sagte er.
"Ich hab noch keinen Wind röcheln hören", murmelte Publius. "Außerdem ist es windstill."
Mucius richtete sich auf. "Bring deine Laterne her, Antonius!", sagte er entschlossen. "Ich werde nachsehen, was los ist."
Antonius brachte die Laterne und Mucius schlug beherzt den Vorhang beiseite. "Oh!", rief er erstaunt aus und blieb wie angewurzelt stehen.
Die anderen schauten ihm über die Schultern. Xantippus' Zimmer wurde durch ein schmales Fenster nur sehr spärlich erhellt, aber die Jungen sahen sofort, dass sich etwas Ungewöhliches abgespielt hatte.
Fast alle Möbel waren umgestürzt, und über den ganzen Fußboden verstreut lagen unordentlich durcheinander zahlreiche Papyrusrollen, Bilder, Mappen, Schreibtafeln und Kleidungsstücke. Nur das Bett une ein breiter Schrank in der Ecke standen noch aufrecht. Von Xantippus war nichts zu sehen. Sein Bett war leer, das Laken in Stücke gerissen.

Die Jungen waren bei dem Anblick so verblüfft, dass sie an das unheimliche Geräusch nicht mehr dachten. Mucius bahnte sich vorsichtig einen Weg durch den Trümmerhaufen, blieb in der Mitte des Zimmers stehen und schaute sich kopfschüttelnd um. Toll!", murmelte er.
Die anderen kanmen langsam nach. Flavius, der als Einziger am Eingang stehen geblieben war, fragte ängstlich: "Wo ist Xantippus?"
Antonius leuchtete mit seiner Laterne in die Küchennische hinein und meldete: "Hier ist er nicht." Dann schaute er unters Bett, aber da war Xantippus auch nicht.
"Wo kann er nur geblieben sein?", fagte Flavius.
"Er ist ausgerückt", sagte Publius grinsend.
"Ja, das ist es", rief Antonius. "Er ist heute Nacht nach Griechenland zurückgefahren, weil er sich gestern Abend so über uns geärgert hat. Vor Wut hat er vorher noch alles umgeschmissen."
Publius lachte höhnisch. "Ich denke, er ist von Lukos in ein Schwein verzaubert worden?"
"Nein", widersprach Antonius lebhaft, "er ist nicht in ein Schwein verzaubert worden. Er ist heute Nacht bei Lukos gewesen, um sich wahrsagen zu lassen. Er wollte wissen, ob Rufus' Vater, der General, sehr wütend ist, wenn er nach Rom zurückkommt und hört, dass Rufus aus der Xanthosschule hinausgeworfen worden ist. So ein General ist sehr flink mit dem Schwert und das ist Xantippus heute Nacht plötzlich eingefallen und da ist er sofort zu Lukos gerannt und Lukos hat hellgesagt, dass Xantippus in Lebensgefahr sei und dass er machen solle, dass er wegkomme, so rasch wie möglich, am besten gleich nach Griechenland. Der General wird nicht nach Grichenland segeln, bloß um Xantippus zu erstechen, das loht sich nicht..." Antonius brach erschrocken ab, denn auf einmal ertönte wieder das dumpfe Röcheln. Diesmal dauerte es länger und war auch lauter. Es kam ganz deutlich aus der Ecke, in der der Kleiderschrank stand. Die Jungen rührten sich nicht.
"Da ist was drin", flüsterte Mucius.
"Ein Geist", wisperte Antonius.
"Lasst uns gehen", hauchte Flavius.
Doch die andern starrten wie hypnotisiert auf den Schrank. Das Röcheln fing wieder and und wurde von einem heiseren Krächzen abgelöst.
"Da ist ein Mensch eingesperrt", sagte Mucius aufgeregt und schlich zum Schrank hin.
"Nicht aufmachen!", schrie Flavius unterdrückt auf.
"Doch", sagte Mucius, "wie müssen . Er kann ja ersticken."
"Es ist kein Mensch", rief Antonius hartnäckig, "es ist ein Geist und ein Geist kann nicht ersticken."
"Halt den Mund!", zischte Mucius wütend. "Kein Geist sitzt morgens im Schrank. Ich mach auf. Leuchte mir!"
Antonius richtete den Schein seiner Laterne auf die Schranktür, aber seine Hand zitterte und der schwache Lichtschein tanzte wie ein Irrlicht an der Wand auf und ab. Im Schrank krächzte es wieder. Der Schlüssel steckte außen im Schloss; Mucius drehte ihn kühn herum, riss die Tür auf und prallte erschrocken zurück.
Im Schrank saß Xantippus, von oben bis unten wie ein Kleiderbündel verschnürt. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt und um seinen Kopf waren mehrere Streifen des Bettlakens gewickelt, so dass man nur seine Augen und das zerzauste haar sehen konnte.
"Xantippus!" riefen die Jungen überrascht.
Hinter dem Tuch krächzte es ärgerlich.
"Warum sitz er im Schrank?", fragte Flavius völlig fassungslos.
Xantippus krächzte noch lauter.
"Er will raus", meite Antonius.
Mucius wurde auf einmal lebendig. "Steht doch nicht so dumm herum!", schrie er die anderen an. "Wir können ihn doch nicht so sitzen lassen. Los helft mir! Packt zu!"
Sie zerrten Xantippus mit vereinten Kräften aus dem Schrank heraus und ließen ihn auf den Fußboden plumpsen. Xantippus knurrte wild. Mucius riss ihm das Tuch vom Kopf, beugte sich über ihn und fragte besorgt:"Wie geht es dir?"
Xantippus antwortete nicht; er schloss die Augen und seufzte tief.
"Er stirbt", sagte Antonius.
Aber Xantippus machte die Augen auf und sagte zornig:"Bei Jupiter und allen himmlischen Göttern! Warum habt ihr so lange gewartet! Ich wäre beinahe erstickt. Rasch, nehmt mir die Fesseln ab! Meinen Arme und Beine sind völlig abgestorben. Holt am besten ein Messer aus der Küche!"
Inzwischen hatten Antonius und Publius die Schnüre um Xantippus' Bein abgewickelt. Mucius schnitt mit einem großen Brotmesser, das Flavius gebacht hatte, die Handfesseln durch. Xantippus bewegte vorsichtig die Arme und drehte leise stöhnen die Hände in den Gelenken. "Helft mir!", befahl er den Jungen. "Ich kann mich nicht bewegen."
Die Jungen hoben ihn auf und führten ihn zu seinem Bett, auf das er erschöpft niedersank. Nach einer Weile belastete er schmerzverzerrt sein rechtes Bein. "Mein Bein!", sagte er grollend. "Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass ich es mir verstaucht habe. Natürlich, es ist geschwollen! Oh! Ah! Auftreten unmöglich!" Dann fasste er sich am Kopf und rief: "Eine Beule! Dacht ich's mir doch! Und was für eine Beule! Die Geschwulst ist annähern rund und hat einen beträchtlichen Durchmesser." Er nahm einen kleinen Metallspiegel von einem Brettchen über dem Bett und starrte lange trübsinnig hinein.
Mucius räusperte sich und fragte respektvoll:"Wie bist du in den Schrank gekommen?"
Xantippus schaute ihn vorwurfsvoll an und sagte seufzend: "Ich bin heute Nacht überfallen worden."